Das Spiel um das Selbstwertgefühl

05.11.2021 / Oliver Wittwer / PDF

AnalysenGlaubenssätzeUnterbewusstsein

Der Grund für fast alles, was Menschen denken, sagen und tun, entspringt dem Wunsch nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bestätigung durch andere Menschen. Uns fehlt es an einem gesunden Selbstwertgefühl und man kann uns Menschen daher als Mangelwesen bezeichnen. Die Anbindung an unser eigenes Selbst wurde unterbrochen oder ist erst gar nie zustande gekommen. Die meisten von uns haben die Entscheidungskompetenz, ob wir glücklich und zufrieden mit uns selber sind, komplett in die Hände anderer Menschen gelegt. 

Genauer ausgedrückt bedeutet dies: Wir erlauben uns nur dann uns wertvoll, geliebt oder wichtig zu fühlen, wenn andere Menschen uns dazu die Erlaubnis geben. Erlaubnis in Form von Komplimenten oder Lob über unsere Worte, Taten und Fähigkeiten, über unser Aussehen, oder über Statussymbole wie Besitztümer, Titel oder gesellschaftlichen Status. Erst dann, wenn wir solcherart Bestätigung von andere Menschen bekommen, erlauben wir es uns, uns für einen Moment oder eine gewisse Zeit glücklich und wertvoll zu fühlen. In der Regel verliert sich dieses angenehme Gefühl nach kurzer Zeit und wir benötigen den nächsten "Kick" in Form von äusserer Bestätigung. 

Was dabei ebenfalls eine Rolle spielt: Die Intensität des "Kicks" hängt davon ab, von wem die Bestätigung kommt, oder wie viele Bestätigungen wir für ein bestimmtes uns zugeschriebenes Attribut erhalten. Wenn ich beispielsweise meinen Wert über mein Aussehen definiere, hängt es natürlich davon ab, wer mich beachtet: Wenn mich eine in meinen Augen schöne Frau/schöner Mann beachtet, hat das mehr Wert als von einem weniger attraktiven Menschen. Oder wenn mich der Chef der Firma lobt, bedeutet das mehr als wenn das Lob von einem weniger hoch gestellten Mitarbeiter stammt. 

Hierbei spielt unser eigenes unbewusstes Bewertungssystem eine grosse Rolle: Wir machen also den Selbstwert, den wir uns erlauben zu fühlen, abhängig vom "Wert" desjenigen oder der "Anzahl" Menschen, von denen wir eine positive Bewertung erhalten. Man könnte es leicht in eine Formel packen: 

Selbstwert = Anzahl mich lobender Menschen x Status dieser Menschen x Intensität des Lobs

Viele Menschen tragen ein starkes Grundgefühl der Selbstablehnung und des mangelnden Selbstwertgefühls in sich. Sie bewerten sich selber dauernd negativ, kritisieren sich und fühlen sich für sich alleine grundsätzlich nicht glücklich. Die Anerkennung von anderen Menschen lindert diesen Zustand für eine gewisse Zeit. Also tun sie alles dafür, dass sie diese Anerkennung im Aussen bekommen. Sie glauben zwar nicht, dass sie wirklich wertvoll oder schön sind, aber sie wissen, dass sie mit diesem oder jenem Verhalten zumindest bei den anderen Menschen den Anschein erwecken können, dass sie wertvoll seien.

Das läuft in etwa nach dem folgenden Motto ab: "Ich bin zwar nicht wertvoll oder schön, aber wenn es mir gelingt, dass andere mich trotzdem für wertvoll, wichtig, schön, intelligent, tüchtig, kreativ, lieb oder sonst was halten, dann merken sie wenigstens nicht, dass ich es nicht wirklich bin". Und so beginnt der Maskenball: Wir spielen etwas vor, was wir nicht sind. Wir verleugnen uns und stehen nicht zu unseren Überzeugungen, weil andere negativ über uns denken könnten. Und das gilt es natürlich zu verhindern. Schliesslich brauchen wir es, dass andere positiv über uns denken. Wir passen uns also an, damit wir nicht auffallen. Und so weiter. 

Wieso fühlen wir uns aber nur dann wertvoll, wenn uns andere Menschen zeigen, dass sie uns wertvoll finden? Sind wir uns eigentlich bewusst, dass wir dieses positive Gefühl in uns selber erzeugen? Wieso können wir nicht einfach glauben oder fühlen, dass wir wertvoll sind, ohne uns unter die Bewertung anderer Menschen zu stellen und uns von ihnen abhängig zu machen?

Ich selber kenne das Gefühl ebenfalls, nicht gut oder wertvoll genug zu sein. Schon vor 25 Jahren erkannte ich, dass es mir an Selbstliebe mangelte. Doch es sollten noch Jahre vergehen, bis ich den Schlüssel dazu fand. Mir war damals nicht bewusst, dass man sich nicht selber akzeptieren oder lieben kann, wenn man sich zu einem grossen Teil selber ablehnt. Mir war nicht einmal bewusst, dass ich dies tat. Erst als ich begann, meine negativen Eigenschaften anzuerkennen und zu akzeptieren, veränderte sich etwas in mir.

Der erste Schritt dahin war, es überhaupt zuzulassen, dass die Möglichkeit besteht, dass ich gewisse unliebsame negative Eigenschaften selber besitze, deren ich mir jedoch nicht bewusst bin. Oft wehrte ich mich gegen Kritik. Ich rechtfertigte mich und stritt die Kritikpunkte ab. Nach einer Auseinandersetzung dieser Art äusserte meine Frau folgenden Satz - und der änderte alles: "Aber ich nehme Dich so wahr!" Da kam die Angst hoch, dass ich diese Eigenschaft tatsächlich besitzen könnte, ohne es mir selber bewusst zu sein. Jedoch alle anderen könnten es eventuell sehen. Zugegeben, die treibende Motivation, mal darüber nachzudenken, war wiederum, dass ich verhindern wollte, dass mich andere negativ wahrnehmen. Aber ich schaute hin und setzte mich mit dem Gedanken auseinander, was wäre, wenn ich diese negative Eigenschaft tatsächlich hätte. Kurz: Ich hatte sie tatsächlich. Und da ich sie nun wahrnehmen konnte, konnte ich jetzt auch an ihr arbeiten. Zuvor existierte sie nicht für mich, da es nicht sein durfte, weil mein Selbstbild es nicht zuliess. Ich hatte also eine Eigenschaft in mir abgelehnt. Sie existierte nicht in meiner Wahrnehmung und nicht in meinem Bewusstsein. Ich hatte einen Teil meiner Persönlichkeit aus meiner Wahrnehmung ausgeblendet. Unbewusst wusste ich ganz genau, dass ich sie besass, aber ich "wollte" sie nicht haben. Also lehnte ich sie ab, und damit einen Teil von mir. Diese Eigenschaft war natürlich nicht die Einzige, die ich ablehnte. Mit der Zeit entdeckte ich noch eine ganze Menge davon. 

Interessanterweise veränderte sich mit jedem solchen Schritt meine Selbstwahrnehmung und mein Lebensgefühl. Ich bemerkte, dass ich mich plötzlich als Ganzes akzeptieren konnte. Ich begann sogar mich ab und an zu mögen und wagte es, mich auch mal schön zu finden, auch wenn ich diesbezüglich gerade keine Bestätigung von aussen bekommen hatte. 

Mittlerweile kenne ich mich und meine Eigenschaften - positive wie negative - viel besser. Ich bin viel selbstbewusster geworden, sprich bewusster darüber, welche Eigenschaften ich verkörpere, sowohl positive als auch negative. Ich spreche mir nun denselben Wert zu, wie ich es immer den anderen gegenüber getan hatte. Und selbstverständlich freue ich mich nach wie vor über Anerkennung und Lob. Aber meine innere Zufriedenheit wird immer weniger abhängig davon. Und es hat zu einem inneren Gefühl der Freiheit geführt, welches mir erlaubt, Dinge zu sagen, zu tun oder zu lassen, unabhängig davon, wie die Reaktion der Anderen sein wird.