Die Übertraumatisierten

21.12.2022 / Oliver Wittwer / PDF

GesellschaftPersönlichUnterscheidungsvermögen

Kürzlich habe ich drei Konversationen geführt, in denen ich meinen Gegenüber meine Wahrnehmung über sie geteilt habe. Einmal sehr wertschätzend und nicht kritisierend, eher fragend und aufzeigend, einmal entstand es aus der seltsam verspannten Antwort auf eine aus meiner Sicht belanglosen Frage, und einmal war das Bedürfnis spontan da, die eigene Wahrnehmung einfach endlich einmal auszusprechen. Die Reaktionen auf meine Nachrichten waren in allen drei Fällen äusserst emotional. Manche waren sogar so stark, als hätte ich das Leben dieser Menschen bedroht. 

Es fühlte sich für mich so an, als würden sich diese Menschen dabei um Kopf und Kragen reden. Einer dieser Menschen bezichtigte mich der Übergriffigkeit und Respektlosigkeit, und er forderte mich auf, ich solle dies mit ihm in einem Face-to-Face-Gespräch klären. Der andere schüttete eine ganze Tirade an Anschuldigungen und Verurteilungen über mich aus, und erklärte mir minuziös, wo und warum ich überall falsch wäre und falsch läge. Im dritten Fall erklärte das Gegenüber lang und breit, wieso er dies anders fühle und wieso es authentisch wäre, dass er es nicht einfach so sehen könne, wie ich das fühle. Die Hauptargumente waren: Ich würde übergriffig in den Raum des anderen eindringen, oder ich solle doch zuerst bei mir schauen, es wäre meine eigenen Projektionen, welche ich bei ihm wahrnehmen würde, oder ich würde den anderen unaufgefordert coachen wollen. 

Interessant dabei ist, dass ich bei diesem Menschen bereits schon vorher einen mächtigen mentalen Schutzmantel wahrgenommen hatte, entweder in ihren Posts oder in direkten Begegnungen mit ihnen. Ich spürte und spüre eine Energie von "kritisiere mich ja nicht", und auch eine gehörige Portion "nach Aussen hin scheinen wollen". Selbstverständlich habe ich mich mit ihren Argumenten auseinandergesetzt und meine Motivation durchleuchtet, wieso ich mit ihnen meine Wahrnehmung geteilt hatte. Mittlerweile bin ich recht klar darüber, was meine Motivation war: Ich wollte mich nicht mehr dem "Nimbus" dieser Menschen unterordnen und einfach sagen, was ich fühle. Ich bin ein sehr emphatischer Mensch und habe solche Befindlichkeitsenergien bei den Menschen schon immer wahrgenommen, und unbewusst entsprechend darauf reagiert, indem ich diese Menschen immer mit Samthandschuhen angefasst hatte. So war ich in der Vergangenheit oft nicht authentisch und habe nicht gesagt, was ich wirklich denke und fühle. Damit bin ich natürlich auch Konflikten ausgewichen. Bei diesen drei Konversationen habe ich nun also quasi ins Wespennest gestochen und eine entsprechende Reaktion ausgelöst. Zudem war es interessant zu überprüfen, ob meine Wahrnehmung und Deutung ihres "Nimbus" korrekt ist. Meine Wahrnehmung hat sich tatsächlich als sehr akkurat herausgestellt.  

All die Argumente, es wären lediglich meine Projektionen, ich würde übergriffig sein, oder ich wolle coachen, kann ich mittlerweile als psychologische Nebelkerzen identifizieren. Es sind Schutzmechanismen und Selbstschutzargumente, um den vermeintlichen "Angreifer" mit sich selber zu beschäftigen, um ihn moralisch zu kompromittieren, oder um von sich abzulenken. Und bei vielen Menschen funktioniert das wunderbar. Diese Schutzmechanismen sind oft so intensiv, dass man ihre Energie durchaus als übergriffig bezeichnen kann. Übergriffig in dem Sinne, dass diese Menschen die anderen zwingen wollen, anders zu denken und zu fühlen, weil die Gedanken der Anderen ihr Selbst- oder Weltbild so stark bedrohen. 

Ich beobachte dieses emotional stark überzeichnete Verhalten besonders bei den Menschen, die ich als übertraumatisiert bezeichne. Menschen, deren Selbstwertgefühl so stark traumatisiert ist, dass sie überdurchschnittlich viel Energie dafür aufwenden, ihre Welt, ihre Freunde und auch ihr Weltbild derart zu gestalten, dass sie möglichst nie mehr in diesem Trauma getriggert werden. Oft sind sie gar beziehungsunfähig, weil ihnen in einer Beziehung die üblichen Fluchtwege nicht zur Verfügung stehen. Sie suchen sich oft bestimmte Glaubenssätze aus, integrieren sie in ihr Weltbild und halten eisern daran fest, wie zum Beispiel: "Ich muss mich für nichts rechtfertigen", "Ich bin genauso richtig wie ich bin und muss nichts an mir verändern", "Wenn jemand etwas bei mir wahrnimmt, dann sind das nur seine eigenen Projektionen, und er muss bei sich schauen", "Niemand kann etwas über mich wissen", oder "Das sind nur deine Gedanken, das hat nichts mit mir zu tun". 

Der Schmerz, den sie offenbar fühlen, wenn man ihr Verhalten beleuchtet oder einfach nur seine eigene Wahrnehmung ausdrückt, scheint dermassen gross zu sein, dass sie alles, wirklich alles dafür tun, nur um ja nicht bei sich hinzuschauen zu müssen. Die Abwehrmechanismen sind so ausgeklügelt und raffiniert, dass sie selber nicht einmal den Schattenkampf erkennen, den sie in so einer Triggersituation mit sich selber und gegen den anderen führen. Sie bemerken nicht einmal, dass sie sich getriggert fühlen. 

Bei anderen Begegnungen habe ich schon beobachtet, dass Menschen sich bereits getriggert fühlen können und sich in eine Rechtefertigungsposition begeben, wenn man einfach nur über ein Thema spricht, das nichts direkt mit diesen Menschen zu tun hat. Es scheint, dass bereits dadurch ihr Weltbild und ihr Selbstbild ins Wanken geraten kann. 

Ich habe durch diese drei Situationen gelernt, dass es nicht möglich ist, diesen Menschen die Hand zu reichen, damit sie den erlösenden Schritt gehen können. Sie können nicht, weil sie nicht wollen. Und sie wollen nicht, weil sie nicht können. Also muss ich sie lassen. Und da ich in ihrer Gegenwart nicht authentisch sein "darf", sie sich daran stören und sich immer wieder in einem Schattenkampf verlieren würden, und mir dann ziemlich übergriffig meine Gedanken und meine Wahrnehmung austreiben wollen, muss ich diese Menschen ihres Weges ziehen lassen und mich aus ihrem Leben zurückziehen. Oder ich spiele weiterhin ein oberflächliches Spiel mit ihnen. 

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es so unendlich erlösend ist, wenn man selber endlich über diesen Schatten gesprungen ist. Wenn man einfach frei sagen kann: "Ja, vielleicht ist das tatsächlich so, wie du das wahrnimmst. Ich werde da mal bei mir hineinfühlen." Wenn man erkennt, wenn man getriggert wurde. Und dann bei sich überprüft, was, und vor allem wieso es das alles mit mir macht. Es muss hier noch angemerkt werden, dass mein Teilen meiner Wahrnehmung in den drei Situationen zwar ehrlich und direkt waren, aber keineswegs abwertend, anschuldigend, unter der Gürtellinie oder dergleichen. 

Wieso schreibe ich das alles? Nein, nicht weil ich mich frei reden will, oder weil ich es nötig hätte, diese Menschen zu provozieren. Ich habe mich die letzten Wochen nochmals eingehend mit diesem Thema auseinandergesetzt, geforscht, und viel über uns Menschen und auch mich gelernt. Falls du bis hierher gelesen hast, und du bereits erkennst, wenn du dich getriggert fühlst, dann hilf es dir vielleicht, in Zukunft solche Triggersituationen aus einer Beobachterperspektive wahrzunehmen und deine eigenen Schatten und den Schattenkampf zu erkennen. Du kannst dir die folgenden Fragen einfach einmal selber stellen und deine eigenen Antworten darauf finden: 

Wieso will ich mich vor den anderen eigentlich verstecken? Wieso darf das nicht sein, was sie wahrnehmen? Weshalb erlaube ich ihnen nicht, einfach so über mich zu denken, wie sie denken? Was wäre, wenn das, was sie wahrnehmen, tatsächlich stimmt? Würde ich mich selber dann nicht vor mir selber verstecken und mich selber täuschen? Und würde ich nicht die anderen, die mir mein vermitteltes Bild abnehmen, ebenfalls täuschen? Und die, die mich wirklich sehen, würden sie nicht eh sehen, wie ich wirklich bin? Wie wäre es, wenn ich einfach einmal den erlösenden Schritt, diesen Schatten anzuerkennen und ihn dadurch zu heilen, machen würde? Was hindert mich wirklich daran? 

Ich weiss, dass dieses "wahrhaftig bei sich selber Schauen" einer der grössten, aber auch einer der wichtigsten Schritte im Leben eines Menschen ist, um echt selbst-bewusst zu werden. Selbst-bewusst in dem Sinne, dass man sich bewusst wird, was man selber vor sich und vor anderen so sehr verstecken wollte. Ist dieser Schritt erst einmal geschafft, und hat man ein paar mal erlebt, dass das Leben danach weitergeht, lebt sich das Leben um ein Vielfaches leichter. Der ganze Stress, vor sich und den anderen "gut" dazustehen und zu "scheinen", fällt dann immer mehr von einem ab.