Wieso ich kein Lehrer sein will

15.08.2022 / Oliver Wittwer / PDF

GesellschaftSpiritualitätPersönlich

Guru mit zwei Schülern

Die Zeit der Lehrer und Gurus ist vorbei. Zu dieser Erkenntnis bin ich schon länger gekommen und möchte hier meine Gedanken mit euch teilen. 

Es gibt keinen Retter im Aussen, keinen Erlöser, kein Lehrer und kein Heiler, der für dich deinen Weg geht. Ja, es gibt Helfer, Weggefährten, Wegweiser, die dir helfen, ein Stück deines Weges leichter zu gehen, dir den Weg weisen, dich mitfühlend an die Hand nehmen. Es gibt die Menschen, die dir durch ihre eigenen Erfahrungen auf ihrem Weg Hoffnung schenken können, dich ermutigen können, weiterzugehen.  

Doch den Weg gehen muss jeder selber. Nicht zwingend alleine. Diese Worte haben eine grundlegend andere Bedeutung, auch wenn sie in unseren Köpfen mit derselben Bedeutung abgespeichert sein mögen. 

Immer wieder erliegen viele von uns der Versuchung, doch durch einen Lehrer, Heiler oder Coach von unserer Last, unseren Ketten, befreit, oder zumindest ein Stück erleichtert zu werden. Und manchmal scheint es tatsächlich zu gelingen. Du kennst das bestimmt, dass da im genau richtigen Moment ein Mensch kommt und dir einen Impuls gibt, Wissen vermittelt oder dir den Weg weist. Und scheinbar dadurch erfährst du dann die lang ersehnte Veränderung in deinem Leben. 

Ich führe das auf den Umstand zurück, dass du in dem Moment reif für genau diesen Schritt warst. Du wolltest die Tür in dir aufstossen, loslassen, nun wirklich gesund oder frei werden, eine Veränderung vollziehen... und genau dann war derjenige da, der dir scheinbar die Türe aufgestossen hat. Doch in Wirklichkeit hat nicht dieser Mensch oder sein Impuls die Türe aufgestossen, sondern dir lediglich den Schlüssel überreicht. Die Tür hast du selber aufgestossen. 

Das Gefüge und Verhältnis von Lehrer zu Schüler und Schüler zu Lehrer empfinde ich schon lange als Konstrukt, welches beiden Parteien eine gewisse Befriedigung verspricht, gewisse Bedürfnisse erfüllt und einem energetisch-symbiotischen Verhältnis entspricht: Der Lehrer bezieht die Energie der Bewunderung, das Gefühl des wichtig- und wertvollseins, des gebrauchtwerdens. Der Schüler bezieht das Gefühl des auserwähltseins, des würdigseins, und speist sich immer wieder mit der Hoffnung, sich durch den Lehrer schneller zu entwickeln, gewisse Lasten einfach vorbeiziehen zu lassen, oder irgendeine sonstige Abkürzung nehmen zu können. Bei Menschenverbindungen, in denen diese Art des Lehrer-Schüler-Verhältnisses wirkt, beobachte und spüre ich fast ausnahmslos diese energetisch-symbiotische Verbindung. Der Lehrer steht meist über den Schülern. Auch wenn er immer wieder betont, dass er dies nicht tut, ist es trotzdem so. Das alles läuft unbewusst ab. Es ist eine Resonanz auf der energetischen Ebene. Die Menschen brauchen es, auf einer Seite dieses Verhältnisses zu stehen, und leben von dieser Energie. 

Ein weiterer Effekt, der sich dadurch ergibt, ist, dass wenn der Lehrer unbewusst oder bewusst auf einen Sockel gestellt wird, steht der Schüler automatisch tiefer. Er fühlt sich weniger weit, weniger wertvoll, weniger machtvoll, etc. Dieses Gefühl und die daraus entstehenden und wirkenden unbewussten Glaubenssätze verhindern genau das, was der Lehrer vielleicht sogar bewusst beabsichtigt, nämlich die Selbstermächtigung seiner Schüler. Doch die Schüler werden selbst-ent-mächtigt. Dieses energisch-symbiotische Verhältnis wirkt oft sehr subtil und nicht offensichtlich. 

Ein anderes, ähnliches Lehrer-Schüler-Verhältnis tritt auch da auf, wo sich ein Mensch durch sein Wirken und vor allem durch sein unermüdliches Streben nach Bekanntheit "nach oben" gearbeitet hat. Er muss seine Fans, Leser und Follower, denen er ja seine Bekanntheit verdankt und diese davon lebt, ständig und unermüdlich bei Laune halten und ihr Interesse an ihm und seinem Wirken aktiv befeuern. Die Energie der Aufmerksamkeit, der Bewunderung oder des Nacheiferns fliesst ständig in grossem Mass. Und dieser Energie scheint sich kaum jemand entziehen zu können. Sie macht süchtig. Und mit der Authentizität des "Lehrers" ist es dann definitiv vorbei. 

Daher will ich kein Lehrer sein. Auch wenn ich viel Wissen und Fähigkeiten besitze, die vielen Menschen "ein Schlüssel" sein können, und ich dieses Wissen gerne teile und verschenke, besteht meine Befriedigung einerseits an den Inhalten selber, die ich erkenne. Das alleine ist schön und macht mir Freude. Andererseits freue ich mich, wenn meine Impulse Menschen helfen, dass sie die Türen in ihr Bewusstsein selber öffnen können. Meine eigene Ent-Wicklung sowie die meiner Mitmenschen ist meine grösste Freude. 

Ich glaube, die Menschheit wird sich über kurz oder lang von diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis lösen. Ich sehe die Zukunft darin, dass immer mehr Menschen das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten stärken, sich ihres Wertes bewusst werden und die Menschen sich gegenseitig helfen und unterstützen. Das Anerkennen der Vielfalt an Talenten, Wissen und Fähigkeiten, all der Unterschiede, wird die Menschen immer weniger antreiben, sich selber in den Vordergrund zu stellen. Sondern die Wertschätzung eines jeden, egal wie viel er besitzt, wird im Vordergrund stehen. Die Menschen werden erkennen, dass niemand für sie ihren ureigenen Weg gehen kann, sie jedoch von vielen unterstützt werden können. In gewisser Weise wird dann jeder zum Schüler und Lehrer zugleich. Und dann, wenn wir als Menschheit diese Hürde genommen haben, werden wir das Gefälle, den Sockel, der zwischen Lehrer und Schüler bestand, nicht mehr benötigen. Dann werden die Menschen sich rasant ent-wickeln. Und darauf freue ich mich schon jetzt.