Meine Gedanken zu Polarity

21.08.2022 / Dr. Oliver Wittwer / PDF

GesellschaftPersönlichUnterscheidungsvermögen

Seit einiger Zeit lese ich in den sozialen Medien einige Posts zum Thema Polarity. Ich fand den Gedanken von Polarity sofort ansprechend, geht es nach meinem Verständnis doch um die Verbindung männlicher und weiblicher Qualitäten. So hatte ich das auf jeden Fall aufgefasst.

Ich zum Beispiel bin ein Mann, der viele weibliche Qualitäten verkörpert. So bin ich sehr empathisch, hochsensibel, kann sehr gut zuhören und auf andere Menschen und deren Ansichten eingehen. Das war nicht immer so. Früher hatte ich einen emotionalen Schutzanzug um mich, sodass ich kaum wahrnahm, welche Energien gerade um mich herum waren. Das hat sich mittlerweile geändert. Zudem beschäftige ich mich seit Jahrzehnten mit unserem Bewusstsein und Unterbewusstsein.

Für mich ist das Zusammenspiel männlicher und weiblicher Energien und Qualitäten eine Grundvoraussetzung, um als Mensch ganz und heil zu sein. Jeder Mensch, egal ob Mann oder Frau, besitzt die Anlage für alle Qualitäten. Mehr oder weniger ausgeprägt. Doch nicht geschlechterspezifisch getrennt nach männlich oder weiblich. Ob die Ausprägung der männlichen Qualitäten und Eigenschaften bei Männern und entsprechend weibliche Qualitäten bei Frauen einen biologischen oder kulturellen Ursprung hat, oder beides, weiss ich nicht.

Was ich jedoch in unserer Gesellschaft beobachte, ist, dass das Bild von männlich oder weiblich stark verzerrt wurde. Insbesondere das gängige Bild von männlich und weiblich sieht man in der Werbung sehr stark ausgeprägt. Dementsprechend meinen Jungs oder Männer, sie müssten beispielsweise besonders stark, aktiv, unverletzlich, kompetent, usw. sein. Das Frauenbild hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die ältere Generation von Frauen schien dem Ideal nachzueifern, besonders gutmütig, dienend, brav, angepasst, und teilweise gar unterwürfig sein. Heute sind viel mehr Frauen bestrebt, sich den Männern gleichstellen zu wollen. Sie versuchen, die männlichen Qualitäten ebenso wie die Männer zu verkörpern. Aus meiner Sicht ist dies eine krasse Maskulinisierung beider Geschlechter. Auf der Strecke bleiben dann leider die weiblichen Qualitäten, die die Menschen zur Heilung mehr als je benötigen würden.

Doch was sind eigentlich männliche und weibliche Qualitäten? Für mich sind zum Beispiel typische männliche Qualitäten (Anmerkung: ohne Wertung oder Zuordnung zu den Geschlechtern und nicht vollständig):

Zielstrebigkeit, Lösungsorientiertheit, Umsetzungswille, logisches Denken, Entschlossenheit, festhalten, konzentrieren, Dominanz.

Die weiblichen Gegenpole dieser Eigenschaften wären dann in etwa:

Beobachten, fühlen, wahrnehmen, zuhören, annehmen, loslassen, öffnen, Hingabe.

Was ich nun in einigen FB-Posts beobachtet und wahrgenommen habe, ist, dass die männlichen und weiblichen Eigenschaften (teilweise radikal) den Geschlechtern zugeordnet werden. D.h. Männer müssen ausschliesslich männliche Qualitäten verkörpern, und Frauen ausschliesslich die weiblichen Qualitäten. Es wird zwar auch davon gesprochen, dass jeder seinen inneren Mann, seine innere Frau integrieren und annehmen soll. Doch zumindest in der Partnerschaft müssten Männer und Frauen jeweils nur die jeweiligen Pole einnehmen.

Beispiele: Ein Mann darf nicht vor seiner Frau über seine Gefühle spreche. Eine Frau darf keine Entscheidungen treffen in Anwesenheit des Mannes. Der Mann muss die Frau führen, und die Frau soll sich dem Mann bedingungslos unterwerfen.

Doch was ist die Konsequenz dieses Anspruches? Meines Erachtens wird so ein neues Rollenbild erzeugt und festgehalten, welches die Ganzheit und Vollständigkeit eines Menschen leugnet und sie erodiert.

Was ich bei den Menschen, deren Posts ich gelesen habe, teilweise fühle und wahrnehme: Einige dieser Frauen scheinen irgendwann an einen Punkt gekommen zu sein, wo sie ihre männliche Dominanz endgültig abstreifen wollten. Also haben sie sich in das Gegenteil gestürzt - der "verkörperten Femininität". Doch wie es oft mit Eigenschaften ist, die man loswerden will: Man stürzt sich ins Gegenteil, nimmt aber diese Eigenschaften unwissentlich und unbemerkt mit, und lebt sie nun verborgen und versteckt weiter. Das ist mit unheimlichem Stress verbunden. Und der Schritt, sich eingestehen zu müssen, dass man diese Eigenschaft doch noch nicht überwunden hat, schmerzt umso mehr. Also dreht man am Rad und leidet weiter. Diesen Stress fühle ich bei einigen. Und so richtig als weiblich nehme ich sie nicht wahr. Manche Frauen, die sich nicht mit diesem Thema beschäftigen und einfach sich selbst sind, empfinde ich als weitaus weiblicher.

Ähnlich nehme ich das bei Männern wahr, die sich entschieden haben, Polarity auf ihre Fahne zu schreiben und ihre Frau zu führen: Ich nehme sie als Männer wahr, die sich aus irgendeinem Grund zu wenig männlich fühlen und dies zu kompensieren versuchen, indem sie sehr viel Energie darauf setzen, die männlichen Eigenschaften zu verkörpern. Aus meiner Sicht ebenfalls ein sehr stressiges Unterfangen und Ziel. Und so richtig als männlich nehme ich sie dann doch nicht wahr. Manche Männer, die sich nicht mit diesem Thema beschäftigen und einfach sich selbst sind, empfinde ich als weitaus männlicher.

Aus meiner Sicht wird das Zuordnen männlicher und weiblicher Eigenschaften zu den Geschlechtern dem Menschsein an sich nicht gerecht. Meines Erachtens geht es vielmehr darum, wirklich und wahrhaftig uns selber zu werden, nämlich indem wir unsere Ängste und Blockaden lösen, behindernde Glaubenssätze loslassen und die in uns angelegten Eigenschaften, sowohl männliche als auch weibliche, zum Ausdruck bringen.

Wenn wir in einer Partnerschaft leben, wird uns dieser Partner immer spiegeln und unsere Schatten triggern. Wenn man den Fokus darauf richtet, sich entwickeln und heilen will, Gefühle annimmt und durch sie hindurch geht, wird man zu dem Menschen, der man wirklich ist.

Für mich stellt sich mittlerweile die Frage, ob ich männlich genug bin, überhaupt nicht mehr. Ich bin so, wie ich bin. Und ich bin auf dem Weg, mich immer mehr anzunehmen. Ich scheue mich nicht mehr, meine empathischen und feinfühligen Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen. Und ich liebe es, männliche Dominanz, Klarheit, Zielstrebigkeit an den Tag zu legen. So fühle ich mich ganz.

Das Leben bringt schon so genügend Herausforderungen mit sich, wieso soll ich mir den Stress, männlich sein zu müssen, zusätzlich antun?