Ein Blick auf unsichtbare Ängste und wie sie wirken

31.08.2022 / Oliver Wittwer / PDF

WeltbilderUnterscheidungsvermögenAnalysen

Landläufig versteht man unter Angst den Gemütszustand in Situationen, die für den Körper bedrohlich sind. Das ist eine direkte Schutzfunktion des Körpers. Eine typische Situation, in der die meisten Menschen diese Art von Angst empfinden, ist eine Begegnung mit einem für Menschen gefährlichen Raubtier in der Wildnis. 

Es gibt aber auch das reine Gefühl der Angst. Es ist eines der fünf Gefühle, die die Autorin Vivian Dittmar in ihrem Buch "Gefühle & Emotionen - eine Gebrauchsanweisung" beschreibt: Freude, Wut, Angst, Trauer und Scham. Sie beschreibt die Angst als die Gefühls-Reaktion auf eine unerwünschte oder bedrohliche Lebenssituation, in der man nicht weiss, wie man darauf reagieren soll und ob man sie überhaupt kontrollieren kann. Das Gefühl der Angst wirkt dabei wie eine Kraft, die uns in die Lage versetzt, kreativ mit der Situation umzugehen und jenseits des gewohnten Repertoires möglicherweise eine Lösung oder einen akzeptablen Umgang mit der Situation zu finden. 

In diesem Text möchte ich jedoch einen tieferen Blick auf die Art Ängste werfen, die in der Regel unbemerkt in uns wirken und einen unvorstellbar grossen Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln ausüben. Bei dieser Art von Ängsten handelt es sich um eine kognitive Strategie unseres Unterbewusstseins, um Schmerzen und Leiden zu vermeiden. Wir Menschen sind es gewohnt, Schmerzen wo immer nur möglich zu vermeiden. Wir bewerten Schmerz meistens als etwas Negatives und wollen möglichst wenig und selten mit damit konfrontiert werden. Angst kann man daher definieren als der unbedingte Wille des Bewusstseins sowie Unterbewusstseins, Schmerzen zu vermeiden. 

Ich habe drei Ausprägungen dieser Art Ängste identifiziert:  

  1. Vermeidung schmerzhafter Situationen: Wenn man in der Vergangenheit eine schlimme und schmerzhafte Situation erlebt hat, hat das Gehirn diese Situation zusammen mit dem Schmerz und allen Umständen, die sie begleitet haben, als Erinnerung abgespeichert. Die Erinnerungen sind dabei über die Neuronen und Synapsen mit dem Schmerzzentrum verbunden. Gewisse Situationen triggern nun diese Erinnerung und alarmieren vor möglichem Schmerz. Alleine der Gedanke oder der Glaube, eine ähnliche Situation wie in der Vergangenheit könnte erneut auftreten, aktiviert das Schmerzzentrum im Gehirn. Das Unterbewusstsein versucht daher, der befürchteten und als schmerzhaft bewerteten Situation um jeden Preis auszuweichen oder sie zu vermeiden. Dabei ist es unerheblich, ob wir uns überhaupt an die damalige Situation erinnern oder nicht. Droht eine ähnliche Situation zu entstehen, übernimmt das Unterbewusstsein die Kontrolle über unsere Gedanken, Absichten, Worte und Handlungen. Der Mensch kann dann nicht mehr klar denken und schreckt nicht davor zurück, falls erfolgversprechend, zu lügen, dem Wachbewusstsein einschüchternde Vorstellungen vorzugaukeln, oder Argumente oder Anschuldigungen bis hin zu Aggressionen zu erzeugen, um andere Menschen dazu zu zwingen, dass die befürchtete Situation nicht entsteht. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Stress oder der Schmerz, den dieses Verhalten erzeugt, schlimmer ist, als wenn die Situation tatsächlich entstehen würde. Der Widerstand dagegen kann unendlich gross werden. 
  2. Sich Sorgen machen: Man glaubt (befürchtet), dass in bestimmten Situationen etwas Schlimmes und Schmerzhaftes passieren könnte. Man geht alle möglichen befürchteten Szenarien in seinem Geiste durch. Dabei quält man sich, denn alleine die Gedanken daran löst bereits den befürchteten Schmerz aus. Ein typisches Beispiel dafür sind sehr besorgte Eltern, die in dieses Verhaltensmuster fallen, wenn ihr Kind sich einmal nicht pünktlich meldet oder nicht nach Hause kommt. Dieses Verhalten erscheint auf den ersten Blick sinnlos. Doch bei genauerem Hinschauen erkennt man, dass ein Mensch, der diese Gewohnheit praktiziert, sich vor unerwarteten negativen Überraschungen schützen möchte. Er stellt sich daher das Schlimmste vor, und wenn es nicht eintrifft, kann er erleichtert aufatmen. Also eine positive Erleichterung. Sollte die Situation tatsächlich eintreffen, dann kommt sie nicht überraschend und man kann dann sagen, man hätte es gewusst. Solche Menschen fürchten, von unerwartetem Schmerz überwältigt zu werden. Der Widerstand gegen überraschenden Schmerz ist dabei so gross, dass der selbst erzeugte Schmerz noch so gross sein kann und in Kauf genommen wird. 
  3. Vermeidung einer Auseinandersetzung mit Informationen: Jeder von uns hat ein Weltbild, welches aus unzähligen Glaubenssätzen besteht. Diese Glaubenssätze bestimmen, was wir für wahr, unwahr, möglich und unmöglich halten. Die meisten Glaubenssätze sind unbewusst. Unser Gehirn ist in der Regel darauf getrimmt, das eigene Weltbild zu schützen und jegliche Notwendigkeit einer Veränderung wenn möglich zu vermeiden. Der Grund dafür ist in diversen negativen Bewertungen zu finden. Beispielsweise, dass es anstrengend sei, sein Weltbild neu zu sortieren. Dass man sich dann verloren und haltlos fühlt, wenn Säulen des eigenen Weltbildes wegbrechen würden, oder dass man sich überfordert fühlen würde, wenn gewisse Information wahr wäre. Der Mensch will an seine Glaubenssätze glauben und sie für wahr halten. Es ist dabei den meisten Menschen egal, ob sie tatsächlich wahr sind. Gelangen nun Informationen zu diesem Menschen, die sein Weltbild oder Teile davon infrage stellen, erzeugt das Unterbewusstsein Widerstand und bekämpft diese Information oder deren Boten. Auch dabei wird nicht davor zurückgeschreckt, Argumente gegen diese Informationen zu erfinden, zu lügen, oder in einem Gespräch mit Hilfe von Aggressionen oder Unterstellungen vom Thema abzulenken. Diese Verhaltensweisen entspringen ebenfalls unserem Unterbewusstsein. 

Eine Gemeinsamkeit dieser drei Ausprägungen von Ängsten ist, dass unser Unterbewusstsein in einer akuten Situation die vollständige Steuerung übernimmt und wir mit unserem Wachbewusstsein meistens kaum eine Chance haben, etwas dagegen zu tun. Denn diese Mechanismen sind uns nicht einmal bewusst. Es ist wie ein Programm, welches vollständig abgespult wird. Das Unterbewusstsein, welches ein Teil von uns ist, wirkt dabei aktiv und erfüllt unsere früheren Entscheidungen, etwas glauben zu wollen. Dabei ist es egal, ob diese Entscheidungen bewusst oder unbewusst gefällt wurden. Wir sind in solchen Momenten also fremdgesteuert, denn unser Unterbewusstsein ist uns fremd. Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Ängste ist, dass das Schmerzzentrum aktiv wird, ohne dass die Situation oder die Konsequenzen bestimmten einer Information überhaupt eingetroffen sind. 

Ein Ausweg, um von diesen Ängsten freizuwerden, ist es, einerseits die Bewertung von Schmerz an sich zu verändern, andererseits, die in uns versteckten und in der Regel nicht überprüften Glaubenssätze zu hinterfragen. Sind sie wirklich wahr? Wäre es nicht schön, wir würden uns von falschen Glaubenssätzen befreien? Von den Vorstellungen, dieses oder jenes sei so unendlich schmerzhaft, dass wir nicht mehr glücklich und frei zu leben wagen? Was wäre, wenn diese oder jene Information tatsächlich wahr wäre und ich bisher etwas Falsches für wahr gehalten habe? Wäre ich nicht für die Wirklichkeit besser gerüstet, wenn mir mehr wahre Informationen zur Verfügung stehen würden? 

Es braucht Mut und teils viel Willenskraft, in diese Schichten unseres Unterbewusstseins einzudringen und Licht hineinzubringen. Doch es lohnt sich. In vielen Texten habe ich Ansätze beschrieben, wie man das tun kann. Es funktioniert, doch auch mir gelingt es noch nicht immer auf Anhieb. Um das zu schaffen, muss entweder ein entschlossener Wille dazu vorhanden sein, oder der Schmerz des Widerstandes muss so gross werden, damit ich als einzigen Ausweg mich nach innen richte und in etwas verändern will.