Die Träumenden

20.12.2021 / Oliver Wittwer / PDF

GesellschaftWeltbilderUnterscheidungsvermögen

Man hätte als Titel auch "Die Schlafenden" wählen können, doch dieser Begriff ist emotional eher beladen. "Die Träumenden" trifft es noch besser, denn jeder kennt den Zustand, wenn man schläft und träumt. In der Traumwelt passieren sehr sonderbare Dinge: Menschen oder Gegenstände ändern plötzlich ihre Form, man ist von einem auf den anderen Moment an einem anderen Ort, kann fliegen oder klebt am Boden fest. Und man macht sich darüber keine Gedanken. Im Wachzustand würden bei uns sofort die Alarmglocken läuten und wir würden uns fragen, wie das sein kann. Doch im Schlafzustand scheinen uns solche Tatsachen überhaupt nicht zu interessieren. Denn im Schlafzustand ist unser kritisches Denken quasi auf null heruntergefahren. Und das stört uns auch nicht, schliesslich sind es nur Träume.

Doch genau dies findet leider auch bei vielen Menschen im Wachzustand statt: Sie nehmen die Widersprüche und Ungereimtheiten in ihrer Umgebung und in der medialen Berichterstattung im besten Fall mit einem Achselzucken zur Kenntnis. Und auch wenn sich das kritische Denken für einen kurzen Moment bemerkbar machen sollte - nach kurzer Zeit scheint das alles schon wieder vergessen. Genau wie im Zustand des Träumens.

Diese Menschen machen sich offenbar keine Gedanken darüber, ob da etwas nicht stimmen könnte, wenn im Fernsehen heute A und morgen das Gegenteil von A verkündet wird. Diese im Grunde augenscheinlichen Widersprüche scheinen von vielen nicht einmal bemerkt zu werden. Es geht sogar so weit, dass Leitmedien oder führende Politiker verkünden, dass man Menschen, die A sagen, meiden solle. Und kurz darauf heisst es von eben diesen Verkündern, dass A gelte, und dass jeder, der nicht A behauptet, zu ächten sei. Namhafte Persönlichkeiten, die von den Medien und der Politik jahrzehntelang geschätzt wurden und eine hohe Anerkennung genossen haben, werden von einem Tag auf den anderen als Spinner und schlimmeres bezeichnet. Sogar Erfinder von Diagnosemethoden, die zurzeit als DAS MITTEL angepriesen und eingesetzt werden, werden nicht mehr gehört und kommen nicht mehr zu Wort, wenn sie dem allgemein verkündeten Narrativ widersprechen. Und andersherum werden Menschen, die zuvor schon regelmässig falsch lagen oder überhaupt keine der eigentlich geforderten Expertisen besitzen, zu Experten erhoben, denen man nun plötzlich blind glauben soll.

Dieses Verhalten ist schwer nachvollziehbar, nimmt man doch gutgläubig und gerne an, die meisten Menschen würden doch sicher wenigstens ein Mindestmass an kritischem Unterscheidungsvermögen besitzen. Leider scheint dies bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung nicht der Fall zu sein. Interessanterweise findet sich die Abwesenheit dieser Fähigkeit sehr häufig auch bei besonders gebildeten und intellektuell geschulten Menschen, zumindest meiner Beobachtung nach.

Es ist also nicht falsch, diese Menschen als Träumende zu bezeichnen. Denn dieselben kognitiven Fähigkeiten, die im Traumzustand fehlen, fehlen bei diesem Menschen auch im sogenannten Wachzustand, zumindest selektiv. Doch was ist der Grund dafür?

Eine Erklärung dafür kann man im Begriff der kognitiven Dissonanz finden. Kognitive Dissonanz bezeichnet in der Sozialpsychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat (Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten), meistens im Kontext von Informationen, die seinen eigenen Ansichten und den Ansichten der scheinbaren Mehrheit der Gesellschaft widersprechen. Diese Art der kognitiven Dissonanz kann mittlerweile überall offen in der Gesellschaft und in den Medien beobachtet werden. Interessant ist, dass meistens auch harte Fakten nicht als solche honoriert oder zumindest als möglich erachtet werden. Im Gegenteil kann man beobachten, dass diese sogar bekämpft und die Vertreter der gegenteiligen Ansichten verunglimpft werden. Bei kognitiver Dissonanz gibt es zwei grundlegende Arten der "Lösung" der Dissonanz:

  1. Echte Dissonanzauflösung:
    1. Die eigene Wahrnehmung wird geprüft und ggf. korrigiert.
    2. Eigene Meinungen oder Einstellungen werden hinterfragt und aufgegeben respektive durch neue ersetzt, sollte die neue Information sich als tragfähig erweisen.
  2. Scheinlösungen um die Spannung zu reduzieren:
    1. Die Erregung wird auf andere Ursachen zurückgeführt.
    2. Der Widerspruch zwischen Verhalten und Einstellung wird heruntergespielt, was einer Relativierung entspricht.
    3. Nichtwahrnehmen, Leugnen oder Abwerten von Informationen.
    4. Selektive Beschaffung und Interpretation von dissonanzreduzierenden Informationen.

Es handelt sich also nicht um einen typischen Traumzustand, da das kritische Denken zumindest selektiv oft noch funktioniert. Durch die akute kognitive Dissonanz wird jedoch das kritische Denken so weit heruntergefahren, damit die eigene Einstellung, Meinung oder Wahrnehmung nicht geändert werden muss.

Aus der Perspektive der Bewusstseinsforschung offenbart sich hinter diesem Phänomen folgender Zusammenhang: Das jeweilige Weltbild wird durch Informationen grundsätzlich infrage gestellt. Meistens sind es die Menschen mit eher geschlossenen und aus der Mehrheitsmeinung gebildeten Weltbildern, die zu dieser Art der kognitiven Dissonanz neigen. Denn geschlossene Weltbilder sind grundsätzlich starr und grundlegende Veränderungen sind nicht gewünscht. Mit den dissonanzauslösenden Informationen werden grundlegende Glaubenssätze infrage gestellt. Grundlegende Glaubenssätze sind solche, die eine tragende Rolle im entsprechenden Weltbild spielen. Wenn solche grundlegenden "Säulen" eines Weltbildes wegbrechen, sind die Konsequenzen für den jeweiligen Menschen enorm. Seine ganze Welt wird auf den Kopf gestellt und er muss die Auffassung und Wahrnehmung vieler Aspekte in seinem Leben von null auf neu lernen. Es ist daher verständlich, dass Menschen sich gegen das Zusammenbrechen ihres Weltbildes wehren und lieber bereit sind, Fakten oder valide Argumente zu leugnen oder zu relativieren, anstatt ihr Weltbild grundlegend zu korrigieren.

Wer diesen Text bis hierher gelesen hat, gehört entweder nicht mehr zu den Träumenden, oder er hat eine valide Chance, seine Traumwelt zu verlassen. Es wäre eine passende Gelegenheit, sich jetzt selber beherzt in die Wange zu kneifen.