Authentisch sein und lieb scheinen wollen

13.08.2022 / Dr. Oliver Wittwer / PDF

UnterscheidungsvermögenAnalysen

Willst du authentisch sein, kannst du nicht gleichzeitig das Ziel verfolgen, als lieb wahrgenommen zu werden. Umgekehrt, willst du als lieb wahrgenommen werden, bist du nicht authentisch. Diese beiden Ausrichtungen sind so unvereinbar wie Wasser und Feuer. Sie schliessen sich gegenseitig aus. Denn es gibt kein "ein bisschen" von beidem. Als ich kürzlich über diese Themen reflektiert habe, hat mich die Radikalität dieser Erkenntnis erschüttert. 

Authentisch sein kann man zusammenfassen als das Bestreben, nach innerer Integrität zu streben und dieser in seinen Äusserungen und Handlungen Ausdruck zu verleihen. In der Regel ist authentisch sein ein Weg, denn durch unsere Erziehung und gesellschaftliche Prägungen schafft es kaum jemand, in seiner kindlichen Authentizität zu verbleiben. Will man wieder authentisch sein und werden, bedarf es einiges an Anstrengung: Selbstreflexion, Anerkennung der eigenen Schatten und verdrängten Gefühle, sowie immer wieder die bewusste Entscheidung, auf Schein und Selbstbetrug zu verzichten.

Die meisten Menschen, so beobachte ich es, streben nicht bewusst danach, authentisch zu sein. Vielmehr folgen sie ihrem Bedürfnis nach Anerkennung, Liebe sowie Bestätigung ihres Selbst- und Weltbildes. Wie ich schon mehrfach in meinen Texten aufgezeigt habe, steckt dieses Bedürfnis sehr tief in uns allen, und es hat einen sehr grossen Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Zudem versteckt es sich geschickt vor unserem Wachbewusstsein und unserer Wahrnehmung, denn es entstammt unserem Unterbewusstsein und wirkt mächtig aus ihm heraus. Nun gibt es beispielsweise die Menschen, die von ihrem kleineren oder grösseren Umfeld als die Verkörperung der reinen Liebe, als die Herzensmenschen schlechthin wahrgenommen werden. Doch sind sie es wirklich? Vorweg möchte ich anmerken, dass es durchaus Menschen geben mag, die diesen Nimbus geniessen und tatsächlich authentisch sind. Doch ich bin bisher kaum solchen Menschen begegnet. Vielmehr habe ich festgestellt, dass je mehr ein Mensch diesen Nimbus verströmt, desto mehr das genaue Gegenteil der Fall ist. Solche Menschen sind oft wahre Meister darin, diesen Eindruck und dieses Bild von sich in den Köpfen anderer Menschen zu erzeugen. Sie bringen anderen Menschen eine gehörige Portion (nicht echte) "Wertschätzung" entgegen, sie erscheinen so liebevoll und einfühlsam, so stark, so selbstlos, dass man auf den ersten und sogar zweiten Blick geblendet wird und davon beeindruckt ist. Doch beobachtet und fühlt man genau hin, bemerkt man, dass sich dieser Duft der Selbstlosigkeit oft nur genau dann verströmt, wenn man im Fokus der Aufmerksamkeit dieser Menschen ist. Die Worte stimmen über kurz oder lang nicht mehr wirklich mit dem Verhalten dieser Menschen überein. Ihre Versprechen entpuppen sich als leere Worte. Man spürt und erkennt, sofern man bereit ist, den Schleier der Täuschung zu lüften, bereit ist, sich ent-täuschen zu lassen, dass es mehr heisse Luft ist als echte "Liebe und Wertschätzung" ist. 

Bei genauerem Blick erkennt man, dass diese Menschen aus dem tiefen Bedürfnis heraus, geliebt zu werden, so handeln und sprechen. Sie verhalten sich daher genau so, dass man das Gefühl und den Eindruck gewinnt, sie wären so überaus lieb, einfühlsam und aufmerksam. Das fühlt sich sehr gut an, und man ist geneigt, diesen Menschen gegenüber dasselbe zu empfinden und ihnen entgegenzubringen. Schliesslich bringen sie uns ja eine gehörige Portion an Wertschätzung entgegen. Aber im Grunde sind Menschen, die sich so verhalten, oft lediglich Bettler nach Liebe und Anerkennung. 

Wenn man so stark Liebe und Anerkennung braucht, um sich wertvoll und glücklich zu fühlen, muss man sich so verhalten, dass andere einem diese Liebe und Anerkennung geben. Man kann dann nicht mehr wahrhaftig und authentisch aus dem Herzen heraus handeln. Denn das wäre oft etwas anderes, und man würde dafür nicht so sehr geliebt werden. Man würde manchmal andere Menschen konfrontieren, und ihnen nicht mehr gefallen. Und daher versucht man, dies um jeden Preis zu vermeiden. 

Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Beobachtungen ist auch, dass diese Menschen sich dieses Spiels, das sie spielen, nicht bewusst sind. Sie glauben, dass sie diese Eigenschaften verkörpern. Schliesslich wird ihnen dies ja dauernd von ihrem Umfeld gespiegelt. Oder sie wollen und müssen es glauben, denn würden sie das Spiel erkennen, würde ihr Selbstwert erstmal gehörig erschüttert werden. 

Und da ich bei fast allen Menschen den Wunsch nach geliebt sein, gesehen und anerkannt werden beobachte, muss ich konsequenterweise auch bei mir nach diesem Bedürfnis suchen. Und ja, es steckt tatsächlich auch in mir. Doch da ich mich entschieden habe, authentisch sein zu wollen, und mich immer wieder neu dafür entscheide, muss ich mich auch zwangsläufig immer wieder entscheiden, nicht mehr aus dem Bedürfnis des geliebt werden Wollens heraus zu handeln. Als Ersatz für diese Energiequelle suche und finde ich in mir immer mehr die Quelle: Anerkennung, Liebe und Wertschätzung mir selbst gegenüber.